Barrierefreie Weiterbildung, barrierefreies E-Learning, barrierefreie Webseiten - darunter kann sich nicht jeder etwas vorstellen. "Barrierefreiheit" bringen viele nur mit dem Bauwesen in Verbindung - dabei gibt es gerade auch zahlreiche Hürden in der digitalen Welt, die de facto viele Menschen von deren Nutzung ausschließen.
Um aktiv etwas dagegen zu tun, sind wir bereits - wie schon berichtet - Videolearning-Partner der Initiative "BIK für alle". Mit der BIK-Mitarbeiterin und Barrierefreiheit-Expertin Sonja Weckenmann haben wir uns nun darüber unterhalten, was hinter Kürzeln wie BITV und WCAG steckt, wie E-Learning in der Praxis barrierefrei werden kann - und warum von Barrierefreiheit am Ende alle profitieren können.
Frau Weckenmann, Sie sind Accessibility-Beraterin und BITV-Test-Prüferin bei der DIAS GmbH, einem Hamburger Forschungs- und Dienstleistungsunternehmen. Können Sie erklären, was sie da genau machen?
Seit 2009 bin ich der Projektreihe "BIK – barrierefrei informieren und kommunizieren" verbunden. Als BITV-Test-Prüferin prüfe ich Websites auf Barrierefreiheit. "BITV" steht übrigens für "Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung". Diese verpflichtet seit Anfang 2006 den Bund, seine Webangebote barrierefrei zu gestalten.
Der BITV-Test ist ein Prüfverfahren, das im Projekt BIK entwickelt wurde, um die Bestimmungen der BITV in der Praxis handhabbar zu machen. Dafür wurden die einzelnen Anforderungen der Verordnung in 50 Prüfschritte übersetzt. Bei einem positiven Testergebnis haben Website-Anbieter die Möglichkeit, mit einem Prüfsiegel die Barrierefreiheit ihrer Seiten auch nach außen zu kommunizieren.
Zu meinen Aufgaben gehört es auch, Dienstleister und Agenturen auf dem Weg zur barrierefreien Website zu unterstützen. Dabei wird der BITV-Test auch bereits während der Entwicklung der Website eingesetzt. Die Entwickler bekommen einen Prüfbericht mit detaillierten Anmerkungen, an welchen Stellen Überarbeitungsbedarf besteht sowie unterstützenden Hinweise, wie die Umsetzung gelingen kann.
Wir bieten zudem an, die Ergebnisse gemeinsam in einem Workshop zu besprechen, oder Interessenten in sogenannten Know-how-Workshops hinsichtlich der Anforderungen der BITV zu schulen. Im Projekt "BIK BITV-Test" habe ich an dessen Weiterentwicklung mitgearbeitet. Und im aktuellen Projekt BIK für Alle passe ich den BITV-Test und die BITV-Selbstbewertung an aktuelle Erfordernisse an und koordiniere die Entwicklung eines WCAG-Tests. Diese Abkürzung steht für "Web Content Accessibility Guidelines", also "Richtlinien für barrierefreie Webinhalte".
Was genau verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Barrierefreiheit“ und warum ist sie so wichtig?
Barrierefreiheit ist die Grundvoraussetzung, dass Menschen mit und ohne Behinderung miteinander leben, lernen und arbeiten können! Im öffentlichen Leben wird z.B. eine Treppe für einen Rollstuhlfahrer oder Eltern mit Kinderwagen zur Barriere, im digitalen Bereich gibt es ebenso Barrieren. Barrierefreiheit bedeutet hier, dass Angebote von allen Menschen – unabhängig von ihren Einschränkungen und den technischen Voraussetzungen – genutzt werden können.
Barrierefreiheit bringt zudem viele Vorteile mit sich: Barrierefreie Webangebote sind zugänglich für alle Nutzergruppen, seien es Menschen mit Behinderung, also die etwa blind, sehbehindert, gehörlos, motorisch eingeschränkt usw. sind, für ältere Menschen oder für Nicht-Muttersprachler. Anbieter erweitern somit Ihre Zielgruppe.
Außerdem sind barrierefreie Webangebote nutzerfreundlicher gestaltet. Navigationsmechanismen wie ein hierarchischer Seitenpfad, Sitemaps oder Suchfunktionen verhelfen zu einer guten Orientierung. Eine leicht erfassbare Sprache und gute Textstrukturierungen machen Texte verständlich. Auch mobile Nutzer profitieren von Barrierefreiheit. Wer draußen im Blendlicht surft, freut sich über gute Kontraste, die für eine bessere Lesbarkeit des Displays sorgt. Wer in der Öffentlichkeit den Ton ausstellt oder ihn in lauten Umgebungen schlecht hört, profitiert von Videos mit Untertiteln. Durch einen semantischen Code, klarer Strukturierungen, Alternativtexte und Transkriptionen sind barrierefreie Webangebote zudem in hohem Maße suchmaschinenfreundlich.
So sieht das Siegel aus, mit dem sich Webseiten schmücken dürfen, deren Inhalte zu über 95% barrierefrei sind - aber auch Dienstleister, die nachweislich barrierefreie Webangebote erstellen können.
Wenn Sie schätzen würden: Wie viele Unternehmen bieten heute eine barrierefreie Arbeitsumgebung an, inklusive barrierefrei zugänglicher Informationen und Weiterbildung?
Das ist schwer zu schätzen. Im Bereich Bauwesen ist Barrierefreiheit den Unternehmen schon länger bekannt. Aus diesem Grund werden die Richtlinien hier wahrscheinlich schon mehr berücksichtigt als im digitalen Bereich. Hier ist das Thema Barrierefreiheit, wohl aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, vor allem bei den Behörden schon angekommen. In der Privatwirtschaft geht es gerade erst los.
Für die Privatwirtschaft gibt es in Deutschland bislang keine Verpflichtung zu barrierefreien Webangeboten. Das könnte sich mit dem European Accessibility Act ändern, das ist ein Vorschlag für eine EU-Richtlinie zu barrierefreien Produkten und Dienstleistungen. Der zurzeit diskutierte Entwurf nennt konkrete Bereiche, z.B. den elektronischen Handel, Personenbeförderungsdienste, Fernsehanstalten oder Banken.
Unabhängig davon wollen wir unser Projekt "BIK für Alle" nutzen, um das Thema Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft stärker bekannt und auf die Chancen und Vorteile aufmerksam zu machen.
Kommen wir mal speziell auf das Thema Barrierefreiheit in der Weiterbildung: Warum legt der Betriebsrat darauf häufig großen Wert, insbesondere, wenn es um E-Learning-Maßnahmen geht? Sind nicht vielmehr die herkömmlichen Präsenzschulungen deutlich weniger barrierefrei als neue Lernformen?
Wichtig ist, dass für alle Mitarbeiter das Weiterbildungsangebot zugänglich ist – egal ob es sich um eine Präsenz- oder E-Learning-Veranstaltung handelt. Richtig ist, dass eine herkömmliche Präsenzschulung auch Barrieren aufweisen kann, wenn z.B. das Gebäude für einen Rollstuhlfahrer unzugänglich ist oder hör-eingeschränkte Teilnehmer nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten dem Referenten folgen können.
Wenn Barrierefreiheit berücksichtigt wird, bieten E-Learning-Maßnahmen große Chancen. Sie können unabhängig von Zeit und Ort wahrgenommen werden und für hör-eingeschränkte Menschen sind beispielsweise untertitelte Lernvideos hilfreich.
Ein Weiterbildungs-Inhalt – etwa ein Schulungsvideo – zu 100% barrierefrei zu gestalten, ist oft sehr aufwändig und damit teuer. Wäre es nicht auch schon ein großer Fortschritt, die Inhalte nur für seh- und hör-eingeschränkte Mitarbeiter zugänglich zu machen?
Wenn Sie bei den seh-eingeschränkten Mitarbeitern auch blinde Menschen mitzählen, dann würde ich dem zustimmen. Die Anforderungen, die blinde Menschen an Barrierefreiheit stellen, decken Anforderungen weiterer Nutzergruppen mit ab. Tastaturbedienung ist beispielsweise eine Voraussetzung für die Nutzung mit assistiven Technologien wie z.B. Screenreadern. Gleichzeitig aber auch für die Nutzung von Menschen mit motorischen Einschränkungen, die zwar sehen können, aber die die Maus nicht oder nur mit Schwierigkeiten bedienen können. Das ist eine große Nutzergruppe, an die häufig nicht gedacht wird.
Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, damit Weiterbildung immer barrierefreier wird?
Wichtig wäre, dass alle Beteiligten, die im Bereich Weiterbildung arbeiten, ein Bewusstsein für Barrierefreiheit entwickeln: Barrierefreie Weiterbildung ermöglicht Menschen mit Einschränkung Teilhabe und bietet für alle Nutzer Vorteile. Des Weiteren ist wichtig, dass entsprechende technische Voraussetzungen vorhanden sind. Das heißt, dass z.B. Anbieter von Lernplattformen und Autorenwerkzeuge diese den Richtlinien der Barrierefreiheit entsprechend entwickeln und diese nicht hinterher teuer angepasst werden müssen. Natürlich müssen diese Werkzeuge auch von Anwendern und Redakteuren mit entsprechendem Know-how eingesetzt werden.
"Barrierefreie Angebote sind nutzerfreundlicher und finden auch bei weniger internetaffinen und älteren Mitarbeitern höhere Akzeptanz" - Sonja Weckenmann, Expertin für Barrierefreiheit, BIK - Barrierefrei Informieren und Kommunizieren
Stellen Sie sich vor, Sie wären die Personalentwicklerin in einem Großunternehmen. Um möglichst barrierefreie Weiterbildung zu bieten, welche 3 Maßnahmen würden Sie angehen?
Da Lerninhalte in großen Unternehmen meist über eine Lernplattform angeboten werden, sollte diese barrierefrei sein. Schließlich sollten die Inhalte, z.B. das entsprechende Video, von den Nutzern mit Einschränkungen auch erreicht werden können. Außerdem sind barrierefreie Angebote nutzerfreundlicher und werden sicher auch bei weniger internetaffinen oder älteren Mitarbeitern eine höhere Akzeptanz finden.
Des Weiteren ist es sinnvoll, möglichst HTML-Lösungen umzusetzen, also z.B. HTML-Formulare statt Flash-Module einzusetzen, etwa für Tests.
Und als Drittes: barrierefreie Videos. Hier ist wichtig, dass der Multimedia-Player zugänglich ist, beispielsweise tastaturbedienbar, und die Videos Untertitel und Audiodeskription haben. Manchmal kann auf eine zusätzliche Tonspur mit einer Beschreibung des Geschehens sogar verzichtet werden, wenn das Video so konzipiert ist, dass alle Informationen über die Sprecher vermittelt werden.
Frau Weckenmann, wir danken Ihnen für das interessante Interview!
Weitere Informationen zu dem Thema Barrierefreiheit gibt es auf der Seite von BIK:
http://bik-fuer-alle.de/