Gerald Lembke: Sinnvolles digitales Lernen statt digitaler Dauerbeschallung

31.03.2015
Carmen Dango
Selbstkompetenz
Inhalt

Digitales Lernen in Schulen und Hochschulen - Fluch oder Segen?

Prof. Dr. Gerald Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Mannheim und Präsident des Bundesverbands für Medien und Marketing. Für viel Diskussion sorgte vor kurzem u.a. sein Interview in der SZ, in dem sich kritisch zum digitalen Lernen an deutschen Schulen äußerte.

In dem folgenden, exklusiven Gastbeitrag für unseren Blog setzt Gerald Lembke sich mit den sehr umstrittenen Thesen von Lehrerverbands-Präsidenten Josef Kraus zur „Zwangsdigitalisierung sowie den Einschätzungen von vier E⁠-⁠Learning-Experten in unserem Blog auseinander. Er plädiert dafür, digitale Medien nur punktuell und erst bei Schülern ab dem 12. Lebensjahr einzusetzen, aber auch für eine stärkere Medienkompetenz der Lehrer.



Von Gerald Lembke

Zur Aussage von Herrn Kraus: „Zwangsdigitalisierung verhindern“ und „Maß und Mitte des digitalen Einsatzes finden“

Zwang ist sicherlich nicht gegeben. Lassen Sie mich einen Beitrag aus der Praxis beisteuern. Ich bewege mich den ganzen Tag in einem digitalen Umfeld, sei es in Computerräumen an der Hochschule, im Management oder bei der Anschaffung von Hardware. Dabei frage ich mich täglich: Wo unterstützt diese Hard- und Software meine Lernenden und deren Lernprozess?

Es ist richtig: „Zwangsdigitalisierung“ kann eine Konsequenz aus dem unüberlegten Einsatz von Hard- und Software in Klassenzimmern und Vorlesungsräumen sein. Hört man aber auf Politik, Wirtschaft und eLearning-Anbieter, ist es offenbar gewollt, endlich (!) allen Schülern einen Computer oder/und iPad in die Hand zu drücken, damit sie endlich (!) Medienkompetenz lernen. Das lässt sich auch aus vielen Kommentaren zu meinem aktuellen Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ herauslesen. Headline: „Raus mit den Computern“.

Was da alle fordern, habe ich als Studiengangsleiter und Studiendekan für „Digitale Medien“ fünf Jahre lang in die Praxis umgesetzt: Jeder Student bekam einen Laptop oder ein Tablet für das ganze Semester, um Programmiersprachen und den Umgang mit Digitalen Medien zu lernen.

Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Nach fünf Jahren der „Lerndigitalisierung“ musste ich feststellen, dass 1. die Noten nicht besser wurden und 2. der Einsatz der Laptops keine positiven Lerneffekte brachte. Außerdem nahm 3. die Konzentration in den Vorlesungen durch Dauerablenkung massiv ab und 4. wurde der disziplinarische Aufwand der Lehrenden immer größer, obwohl alle Dozenten Experten auf dem Feld der digitalen Medien sind. Schließlich führte diese Hardware-Vollversorgung zu noch höheren Ansprüchen, etwa nach dem Motto: „Bekommen wir jetzt auch eine 6000-Euro-Kamera?“

Gerald Lembke (Copyright: www.gerald-lembke.de)

Letztlich habe ich diese „Zwangsdigitalisierung“ beendet. Es erfolgt jetzt ein lernzielgerichteter und von Dozenten und Mentoren begleiteter Einsatz von Hard- und Software, wo sie als Instrumente sinnvoll erscheinen – und das entscheide ich oder der Dozent. Mit der Folge: Der Einsatz dieser technischen Hilfsmittel ist heute sogar am Studiengang „Digitale Medien“ nicht täglich und pauschal der Fall.

Warum sollte nun ein Schüler von acht Jahren ein iPad an die Hand bekommen? Wenn doch selbst „die Großen“ diese zum Spielen und Chatten nutzen? Offenbar können auch sie nicht wirklich damit umgehen, und dadurch sind positive Lerneffekte nicht möglich.

Das hat nicht zuletzt die weltweite Hattie-Studie bewiesen: Nicht Technik entscheidet über den Lernerfolg, sondern in erster Linie die Persönlichkeit des Lehrers. Dieser lernzielgerichtete Einsatz mit Hilfe fachkundigen Personals führte in unserem Studiengang zu sehr erfolgreichen Medienprojekten, beispielsweise Imagefilmen, Online-Kampagnen und weiteren, die nachweisbar zu positiven Lerneffekten führten.

Zur Aussage: „Das Konzentrationsvermögen sinkt, das Lernen bleibt oberflächlich, Schule braucht Durchhaltevermögen“

Das gilt sicher für alle Schulformen. Der Fokus muss aber auf Kinder im Grundschulalter gelegt werden: Hier zeigen neurowissenschaftliche Erkenntnisse gerade aus den letzten drei Jahren, dass Kinder durch den Einsatz von digitalen Medien so stark (ab-)gelenkt sind, dass ein systematischer Lernprozess häufig nicht mehr möglich ist. Darüber hinaus sind die Grenzen der digitalen Mediennutzung in der Praxis verschwommen. Wer einmal digitale Medien im Unterricht einführt, erlebt, dass Kinder immer wieder damit arbeiten wollen.

Für Lehrer werden diese Medien zur Arbeitserleichterung im Unterricht, er kann sich ein Stück zurücklehnen. Und weil genau das passiert und der Einsatz besonders im Alter bis 12 Jahre keine positiven Effekte im Unterrichtsalltag liefert, muss von dem Einsatz abgeraten werden. Ab dem 13. Lebensjahr sollte der Einsatz digitaler Medien achtsam und gezielt dort erfolgen, wo es Sinn ergibt, aber eine „Dauerbeschallung“ muss man vermeiden. So kann tatsächlich die Aufmerksamkeit punktuell erhöht werden, und die Kinder sind in der Lage, die Informationen im Gehirn zu verarbeiten und damit ihr Wissen neurobiologisch zu verankern.

Kritisch schätze ich folgende Position von Herrn Gunter Dueck ein:

„Wir konsumieren heute – wenn wir das Wichtige erkennen können und es in der besten Form im Netz zu finden vermögen – dieses Wichtige in einer so unerhört guten Form, dass eine normale Schule der Kreidezeit als hoffnungslos hintendran empfunden werden kann.“

Er relativiert zwar mit der Formulierung „das Wichtigste erkennen können“ seine Aussage, dass wir im Netz in einer „unerhört guten Form“ lernen können. Aber: Zentral bei jeder Lernerfahrung sind die zwischenmenschliche Interaktion, die spontanen Diskussionen im Unterricht sowie das gemeinsame Lernen in Gruppen. Face-to-Face bleibt unschlagbar, wenn ein begeisternder Lehrer mit seinen Schülern arbeitet. Da kann kein MOOC aus Harvard mithalten! Digitale Medien als Ergänzung – okay. Aber bloß nicht als geldsparender Ersatz für Lehrer aus Fleisch und Blut.

Übrigens, Herr Dueck, da Sie von Eristik sprachen: Die Jünger der Eristik stürzen sich auch gerne auf meine Thesen … was zeigt: Die Kunst der Differenzierung und Selbstreflektion ist bereits bei vielen ach so modernen Nutzern digitaler Medien auf der Strecke geblieben.

Zur Aussage: „Grundlagen des Programmierens muss man in Schulen nicht vertieft lernen“

Grundsätzlich ist gegen das Fach „Programmieren“ nichts einzuwenden. Die entscheidende Frage lautet: Ab welchem Alter und wie sollte das Fach umgesetzt werden? Kinder sollten in den ersten sechs Schuljahren zunächst das Denken lernen, was sie im Deutsch- oder Mathematik-Unterricht immer intensiver trainieren. Denn Programmierung ist ein hochkomplexes Fach, das auf logischem Denken und der praktischen Anwendung von Fachwissen und Transferwissen basiert. Hochschulen beklagen heute zunehmend, dass diese Fähigkeiten bei Studenten ab einem Alter von 17 Jahren immer geringer ausgeprägt sind – und sich diese Entwicklung aktuell verschärft. Könnte das an den oberflächlichen Lernerfahrungen liegen, die immer mehr junge Erwachsene mit digitalen Medien machen?

Daher ist die Frage zu stellen: Wenn es „die Großen“ nicht können, wie sollen es „die Kleinen“ lernen? Sicher nicht in der Grundschule, wo sie aufgrund ihrer Gehirnentwicklung noch nicht in der Lage sind, kritisch und konstruktiv den Umgang mit digitalen Medien zu reflektieren. Es gibt schon die MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Es mutet daher aktionistisch an, neben diesen Fächern noch weitere digitalorientierte Fächer anzubieten. Wohl könnten Inhalte der Digitalen Medien in den Curricula der MINT-Fächer ab dem 12. Lebensjahr berücksichtigt werden. Dann beginnen Kinder, über sich und die Welt neu nachzudenken, allmählich entwickelt sich die Fähigkeit zur Selbstreflektion.

Eine weitere notwendige Bedingung: Lehrer müssen in diesen Inhalten fit sein. Diese Inhalte sollten aber nicht ausschließlich an die „Tekki-Lehrer“ delegiert werden! Sie sind auch von Lehrern in den Fächer Deutsch oder Fremdsprachen zu vermitteln, genauso in Fächern, wo es um Werte und Normen geht. Wir brauchen in den Schulen Lehrer, die Digitale Medien zielgerichtet einsetzen und in ihre Disziplin einbinden. Von einem solchen Ziel sind aber nicht nur Lehrer, sondern eine große Mehrheit der Bevölkerung Meilen entfernt.

Fazit: Herrn Kraus kann ich in vielen seine Thesen bestätigen. Ich wünschte mir allerdings von einem Präsidenten eines Lehrerverbandes eine progressivere Argumentation, sobald es um den kompetenten Umgang von Lehrern mit digitalen Medien geht.

Literaturhinweis: Von Gerald Lembke und Co-Autor Ingo Leipner ist im März 2015 folgendes Buch zum Thema erschienen:

Die Lüge der digitalen Bildung: Warum unsere Kinder das Lernen verlernen

Redline Verlag, 256 Seiten
ISBN: 3868815686
19,99 Euro

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